Wir freuen uns, an der Freien Universität in Berlin-Dahlem zwei hochinteressante Anwaltsfortbildungen zum Thema "Fehlurteil und Aussagepsychologie" veranstaltet zu haben.
Den Auftakt machte am 24. November 2023 Prof. Renate Volbert, die unterstützt durch die Expertise von Mona Leve die Ergebnisse eines mit ihrer Beteiligung durchgeführten Verbundprojekts zum Thema „Fehler und Wiederaufnahme im Strafverfahren“ vorstellte. In der Studie wurden neben Expert:innenbefragungen Akten aus über 500 deutschlandweit erfolgreichen Wiederaufnahmeverfahren analysiert. Hier zeigte sich das erste von Prof. Volbert aufgezeigte Problem: Die Datenlage. Das Fehlen einer bundesweit vollständigen und einheitlichen Datenerfassung sowie die unterschiedliche Bereitschaft der Staatsanwaltschaften zur Kooperation erschwert die wissenschaftliche Aufarbeitung von Fehlurteilen und damit auch die Behebung von Fehlerquellen im Strafprozess.
Dennoch konnte Prof. Volbert mit ihren Kolleg:innen vielfältige (teilweise überraschende) Ergebnisse präsentieren. Anträge auf Wiederaufnahme werden in etwa gleichen Teilen sowohl von der Verteidigung als auch von der Staatsanwaltschaft gestellt, wobei auffällig ist, dass die Anträge zugunsten des Verurteilten auch bei der Staatsanwaltschaft deutlich in der Überzahl sind. Vor allem überraschte dann aber eine Zahl: Entgegen den üblicherweise von Verteidiger:innen angenommenen Erfolgsquoten im Prozent- oder gar Promillebereich wurde in 44,7 % der Fälle die Wiederaufnahme des Verfahrens angeordnet. Und auch wenn die Erfolgsquote von staatsanwaltschaftlichen Wiederaufnahmeanträgen mit 91,6% deutlich über jener der Verteidigung (39,2%) liegt, so haben diese Zahlen einen bleibenden Eindruck auf hinterlassen und schüren Hoffnung für unsere Projektarbeit.
Weniger überraschte dann, dass die meisten erfolgreichen Wiederaufnahmeanträge im Anschluss an Strafbefehlsverfahren erfolgten und dass (nicht nur diesbezüglich) die unerkannte Schuldunfähigkeit den häufigsten Fehler darstellte. Im Übrigen ist erstaunlich, dass sich bis heute die von Peters im Jahr 1972 als wesentlich identifizierte Fehlerquelle der falschen (Zeugen-)Aussagen nach wie vor als signifikant erwiesen. Eine ebenfalls beachtenswerte Gruppe, die bei Peters seltener vorkam, sind Fälle von Personenverwechslungen.
Im zweiten Teil der Fortbildungsreihe am 1. Dezember 2023 fokussierte sich Jun.-Prof. Lennart May auf eine einflussreiche Fehlerquelle und widmete seinen Vortrag vernehmungsbedingt-falschen Beschuldigtenaussagen. Zu Beginn verdeutlichte Jun.-Prof. May, dass es sich bei falschen Geständnissen um ein reales Problem handelt. Er stellte dabei Studien vor, die aufzeigen, dass es unglaublich schwierig ist, falsche Geständnisse zu erkennen. Selbst bei Staatsanwaltschaft und Polizei liegt die statistische Wahrscheinlichkeit auf dem Zufallsniveau. Gleichfalls haben falsche Geständnisse erwiesenermaßen stärkeren Einfluss auf den Ausgang des Verfahrens als andere Fehlerquellen.
Weiter referierte Jun.-Prof. May über den Unterschied zwischen vernehmungsbedingt und freiwillig erfolgten falschen Geständnissen, wobei er jeweils den Unterschied zwischen strategisch und internalisierten Falschaussagen anschaulich anhand von Beispielen näher brachte: In Vernehmungssituationen können Beschuldigte einerseits vernehmungsbedingt strategisch handeln, um die unangenehme Vernehmungssituation kurzfristig zu umgehen. Andererseits kann durch die Vernehmung auch Misstrauen gegenüber den eigenen Erinnerungen geschürt werden.
Jun.-Prof. May zeigte, wie die Technik von Minimierung und Maximierung angewendet wird, um Informationen zu erhalten, die die eigene Hypothese bestätigen. An einem Fallbeispiel verdeutlichte er sodann, wie sich der Einsatz von solch problematischen Vernehmungsmethoden bei dem Einsatz verdeckter Ermittler zuspitzen kann. Anhand von ausgewählten Studien wies er uns darauf hin, dass diese Methoden nicht geeignet sind, eine Hypothese wirklich zu überprüfen. Erst konkurrierende Hypothesen können vor Bestätigungsverzerrungen schützen. Diesbezüglich verwies er abschließend auf die so genannten Mendez-Prinzipien (https://interviewingprinciples.com/), die die Wirksamkeit und Genauigkeit von Beschuldigtenvernehmungen verbessern und einem vernehmungsinduzierten Geständniszwang entgegenwirken sollen.
Wir freuen uns über diese interdisziplinäre Veranstaltungsreihe. Es zeigt sich wieder einmal, dass wir Erkenntnisse aus anderen Fachrichtungen nicht nur brauchen, um erfolgreiche Wiederaufnahmeverfahren zugunsten von falsch Verurteilten zu betreiben, sondern auch, um das Entstehen von Fehlurteilen effektiv zu vermeiden.
Sollten Sie tiefergehendes Interesse an der Studienlage und den Veröffentlichungen haben, finden Sie mehr Informationen hier:
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