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DAS PROJEKT

Auf wen das Fallbeil des Fehlurteils niedergegangen ist, dem winkt, ist es erst versehen mit dem Siegel der Rechtskraft, wenig Aussicht auf Rettung. Besonders fatal ist das, wenn das Urteil auf Freiheitsstrafe lautet. Strafverteidigerinnen und Strafverteidiger kennen solche Fälle. Häufig leiden sie mit dem Schicksal der Mandant:innen, die nach ihrer Überzeugung zu Unrecht verurteilt wurden, nicht selten gegen den erbitterten, vergeblichen Widerstand der Verteidigung. Danach bleibt zumeist nur Resignation.

Wenig wissen wir in Deutschland über das Phänomen des Fehlurteils, über seine Häufigkeit und seine Ursachen. Seit der wegweisenden Untersuchung von Karl Peters über die „Fehlerquellen im Strafverfahren“ von 1974 hat die Wissenschaft sich kaum damit beschäftigt. Wiederaufnahmeverfahren und ihre Ergebnisse werden weder statistisch erfasst noch systematisch ausgewertet. Erst in jüngerer Zeit beginnt sich das zu ändern. Bislang waren Fehlurteile auch kaum einmal Gegenstand der juristischen Ausbildung. Ein Bewusstsein davon, dass die bestehenden Rechtsbehelfe und Vorkehrungen gegen Fehlurteile in den Regeln des Strafprozesses nicht ausreichen, um sie zu verhindern, ist ebenso wenig ausgeprägt wie die Einsicht in die Notwendigkeit wirksamer Mittel, auch rechtskräftige Fehlurteile aufzuheben. Eine Fehlerkultur ist in der Strafjustiz unterentwickelt.

In anderen Ländern ist das anders. Vornehmlich in den USA. Hier beschäftigen sich Initiativen wie das Innocence Project oder das National Registry of Exonerations seit Jahrzehnten mit Fehlurteilen und ihren Ursachen. Nicht nur das. Namentlich das Innocence Project, begründet von zwei Strafverteidigern aus New York, Barry Scheck und Peter Neufeld, versucht, Fehlurteile aufzudecken und zu korrigieren. Und zwar ausschließlich mit Hilfe von DNA-Analysen. Das ist seit 1992, dem Gründungsjahr des Projektes, über dreihundertmal gelungen. Inzwischen gibt es ein weltweites Innocence Movement, zu dem auch Initiativen in mehreren europäischen Ländern gehören. Nicht jedoch in Deutschland.

In der anwaltlichen Praxis hierzulande spielen Wiederaufnahmeverfahren kaum eine Rolle. Es gibt wenige Spezialist:innen, die sich auf diesem Gebiet betätigen, gelegentlich allerdings mit spektakulären Erfolgen. Eine dem Innocence Project vergleichbare Initiative existiert bislang nicht. Es ist an der Zeit, das zu ändern.

 

Denn:

In jüngerer Zeit ist etwas Bewegung gekommen in diesen Hinterhof der Strafjustiz. Die Dissertationen von Böhme (2015) und Dunkel (2019) befassen sich mit dem strafgerichtlichen Fehlurteil bzw. mit Fehlentscheidungen in der Justiz. Arnemanns Dissertation (2019) untersucht Defizite der Wiederaufnahme im Strafverfahren. Im Strafverteidiger 2020, 52 ff. wurden die Ergebnisse einer Untersuchung von Kemme und Dunkel über Strafbefehl und Fehlurteil publiziert. Ein Forschungsprojekt der Professor:innen Bliesener, Altenhain und Volbert befasst sich mit „Fehler und Wiederaufnahme im Strafverfahren“.

Es ist daher überfällig, den Versuch zu unternehmen, Aufdeckung und Korrektur von Fehlurteilen auch in Deutschland systematisch anzugehen. Verteidiger:innen wissen, dass es sich hier nicht um ein Phänomen handelt, das sich auf spektakuläre Einzelfälle beschränkt, die durch die Medien gegangen sind.

 

Die vielen Einzelschicksale, die gar nicht erst aufgedeckt werden, bleiben auch deswegen verborgen, weil Wiederaufnahmeverfahren an zahlreichen praktischen und rechtlichen Hindernissen scheitern. Oft werden sie gar nicht erst in Angriff genommen, weil Verurteilte, wenn sie Geld hatten, um ihre Verteidigung zu finanzieren, spätestens dann mittellos sind, wenn ihre Verurteilung rechtskräftig ist. Für Anwält:innen ist das Engagement in diesem Stadium des Verfahrens zumeist eine Pro-bono-Aktivität, wenn sie überhaupt aufgenommen wird. Bestenfalls kommt es zu einer Beiordnung mit bescheidener Vergütung.

Eine Initiative, die Prof. Dr. Kirstin Drenkhahn, Prof. Dr. Kai Ambos, Prof. Dr. Stefan König und Prof. Dr. Carsten Momsen angestoßen haben, muss von dieser Situation ausgehen. Wir wollen versuchen, sie mit gegebenen Mitteln zu verbessern. Dazu benötigen wird die Hilfe engagierter Anwält:innen, die bereit sind, sich auf dem Gebiet der Wiederaufnahme zu qualifizieren und zu engagieren.

Durch die Verbindung mit universitären Lehrprojekten erhalten die Anwält:innen nun aber die Möglichkeit, mit hochmotivierten und speziell geschulten StudentInnen zusammenzuarbeiten und so die Arbeitslast ohne erhöhte Kosten zu verteilen. Die an unseren Law Clinics teilnehmenden Student:innen zeichnen sich durch ein großes Interesse an der Praxis der Verteidigung und durchweg überdurchschnittliches Engagement aus. Im Einzelnen planen wir:

  • Wir schaffen eine zentrale Anlaufstelle für Deutschland, an die sich Menschen wenden können, die meinen, sie seien zu Unrecht verurteilt worden, und eine Korrektur ihrer Verurteilung anstreben. Derzeit wandern Konvolute abgegriffener, engzeilig beschriebener Hilferufe mit Stapeln von Anlagen von Anwalt zu Anwältin wie die Hefte eines Lesezirkels durch die Republik. Die meisten Empfänger versuchen, sie schnell wieder loszuwerden.

  • Bei dieser Anlaufstelle eingehende Anfragen werden mit Hilfe hierzu besonders ausgebildeter Student:innen unter anwaltlicher und wissenschaftlicher Anleitung in einem ersten Schritt daraufhin geprüft, ob sie für die Einleitung eines Wiederaufnahmeverfahrens geeignet erscheinen.

  • Für die Studierenden wird im Rahmen der an der FU Berlin und der Universität Göttingen bestehenden Law Clinics (das sind Formate, in denen die theoretische Ausbildung mit praktischen Einsätzen bei AnwältInnen verbunden wird) ein spezielles Curriculum angeboten, in dem sie im Wiederaufnahmerecht, in kriminalistischen Wissenschaften, in Ursachen von Fehlurteilen und in der Praxis von Wiederaufnahmeverfahren unterrichtet werden. Das Curriculum wird in Zusammenarbeit mit weiteren Universitäten (derzeit Bielefeld, Augsburg, Greifswald, DHPol Münster) erarbeitet.

  • Für Anwält:innen, die an speziellen Kenntnissen für die Durchführung von Wiederaufnahmeverfahren interessiert sind, soll eine Fortbildungsveranstaltung von der Arbeitsgemeinschaft Strafrecht im DAV angeboten werden, die in Recht und Praxis des Wiederaufnahmeverfahrens einführt. Für die Teilnahme an der Veranstaltung werden FAO-Bescheinigungen ausgegeben

  • Wenn sie mit den gewonnenen Kenntnissen das Projekt unterstützen wollen, begleiten die auf diesem Weg fortgebildeten Anwält:innen Studierende der Law Clinics bei der Prüfung der eingehenden Anfragen im Rahmen von Praktika. In der Anfangsphase des Projektes wird die Anzahl dieser Prüfungen begrenzt bleiben müssen. Sie werden in der Reihenfolge ihres Eingangs bearbeitet. Sind die Kapazitäten ausgelastet, müssen später eingehende Anfragen zurückgestellt werden. Wir hoffen aber, die Kapazitäten ausweiten zu können, wenn das Projekt Fahrt aufnimmt und erste Erfahrungen vorliegen.

  • Für die anleitende Tätigkeit in der Auswahlphase kann derzeit keine Vergütung gezahlt werden. Erweisen sich Anfragen als erfolgversprechend für ein Wiederaufnahmeverfahren, so kann – wenn nicht die Rechtsuchenden Mittel bereitstellen – eine Beiordnung beantragt werden. Das Innocence Project in den USA ist eine spendenfinanzierte Law Clinic, die auch durch das Pro-bono-Engagement vieler amerikanischer Strafverteidiger:innen erfolgreich wurde. Wir werden versuchen, auch für das deutsche Projekt Spenden einzuwerben, hoffen aber auch auf das Engagement von durch die Sache motivierten Strafverteidiger:innen.

Wir benötigen also Unterstützer:innen aus der Anwaltschaft. Eine dem Innocence Project ähnliche Initiative ist, wie ausgeführt, in Deutschland längst überfällig. Sie darf nicht auf Fälle beschränkt bleiben, in denen mit Hilfe von DNA-Analyse Fehlurteile zu Fall gebracht werden. Sie muss das gesamte Spektrum erfassen, in dem nach geltendem deutschen Recht Wiederaufnahmen von Strafverfahren möglich sind.

 

Wir bitten daher um Zuschriften von interessierten Kolleginnen und Kollegen, die an angebotenen Fortbildungen teilnehmen wollen. Zuschriften richten Sie bitte an info[at]wiederaufnahme.com. Wir bitten auch um Mitteilung, ob Bereitschaft besteht, an den Law Clinics in Göttingen oder Berlin teilzunehmen.

Das Projekt wird wissenschaftlich begleitet. Es wird sich auch mit den Ursachen von Fehlurteilen befassen und Wiederaufnahmeverfahren, die initiiert werden, systematisch erfassen. Hier sind Erweiterungen in viele Richtungen denkbar. Das Innocence Project in den USA ist auch rechtspolitisch tätig. Es hat in verschiedenen Bundesstaaten Reformen des Strafverfahrens angestoßen und durchgesetzt. Auch das sind Ziele, die sich das Projekt für Deutschland gesetzt hat.

 

Gerhard Strate hat am Ende seines Beitrags „Wiederaufnahmeverfahren“ im Münchner Anwaltshandbuch Strafverteidigung (2. Aufl. 2014, § 27) angemerkt: „Die Praxis des Wiederaufnahmerechts hat es sich bislang im Dämmerschein behaglich gemacht. Es wird Zeit, sich ihrer scharfsichtig zu bemächtigen.“

Beginnen wir damit!

Prof. Dr. Stefan König

Prof. Dr. Carsten Momsen

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